Presseschau: Wasser ist zum Wärmen da

Ein Beitrag in der Rheinpfalz am Sonntag

17.10.2025 von

Kanal, Fluss, See – alles lässt sich anzapfen, um Heizenergiezu gewinnen, zeigen mehrere Projekte. Und es würde auch gegen den Klimastress helfen.

Abwasserkanäle und Gewässer sind für Energieforscher besonders interessant geworden. Zwar herrschen in Kanälen, Flüssen und Seen vor allem im Winter niedrige Temperaturen. Doch dank moderner Wärmepumpen, die in den vergangenen Jahren Entwicklungssprünge gemacht haben, lässt sich damit auch heizen oder Industriedampf erzeugen. Das Zauberwort: Aquathermie.

Jeder Mensch hinterlässt tagtäglich große Mengen Abwasser: beim duschen, beim Nudelnabgießen, beim Spülen der Toilette. Im Kanal kommt alles zusammen und ist im Schnitt 25 Grad warm. Auf seinem Weg durch den Untergrund zur Kläranlage kühlt alles ab, hält aber im isolierenden Erdreich einen Durchschnittswert von 15 Grad – im Winter etwas weniger, im Sommer etwas mehr. Das ist warm genug, um im Winter damit zu heizen, und kalt genug, um im Sommer damit zu kühlen.

Die Energie aus der Kanalisation habe in Deutschland das Potenzial, rund 14 Prozent des gesamten Gebäudewärmebedarfs abzudecken, heißt es in einer Studie der Beratungsgesellschaft Enervis aus dem Jahr 2017. Um die Wärme abzuzapfen, gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten: direkt im Gebäude, im Kanal oder am Ende in der Kläranlage.

Die Idee ist nicht neu. Die ersten Versuche in Deutschland stammen aus den 1920er Jahren. In letzter Zeit wurden in Europa rund 100 größere Anlagen gebaut. Etwa in Frankreich, wo der Élysée-Palast, Sitz des französischen Präsidenten, sowie das Gebäude der Nationalversammlung unter anderem mit Wärme aus dem Pariser Kanalnetz beheizt werden.

Die mit 2,1 Megawatt Leistung größte deutsche Anlage soll im Stuttgarter Neubaugebiet Neckarpark eines Tages zwei Drittel der Heizwärme für das Viertel liefern. Ein Durchbruch für die innovative Technologie ist das allerdings nicht.

Bislang deckt Deutschland seinen Wärmebedarf für Heizung und industrielle Prozesse noch zu über 80 Prozent mit fossilen Energieträgern. „Bis vor zwei Jahren waren Öl und Gas einfach noch zu günstig für ein Umdenken“, meint Volker Stockinger, Professor für Energiegerechtes Bauen und Gebäudetechnik an der Technischen Hochschule Nürnberg.

Doch der Ukraine-Krieg habe einen Wandel angestoßen: „Vor allem in Kommunen, die ja per se langfristig planen, hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch der Wärmebereich möglichst bald auf regenerative Energien umgestellt werden muss.“

Stockinger weiß, wovon er spricht. In Bamberg leitet er die Begleitforschung für die Wärmeversorgung des neuen Innenstadtquartiers Lagarde, deren

Grundlast eine Kombination aus Erdwärme und Abwasserwärme decken soll. Die gewonnene Energie wird in der Zentrale zusammengeführt, wo sie in ein kaltes Nahwärmenetz eingespeist und an die dezentral in den Gebäuden montierten Wärmepumpen verteilt wird.

Kalte Nahwärmenetze sind eine neue Variante der üblichen Wärmenetze, die mit niedrigen Wassertemperaturen nahe der Umgebungstemperatur oder sogar darunter betrieben werden. Das minimiert die Wärmeverluste und man kann erneuerbare Wärme aus dem Meer, aus Flüssen, Seen, dem Grundwasser, dem Erdreich oder der Umgebungsluft einbinden und außerdem bislang ungenutzte Abwärme aus Gewerbe und Industrie dazuholen.

Um mit dem vergleichsweise kalten Wasser heizen zu können, wird die Temperatur am Schluss mit einer Wärmepumpe auf das erforderliche Niveau gehoben. Kalte Wärmenetze gelten aufgrund ihrer Flexibilität und der niedrigen Betriebstemperaturen als Schlüsseltechnologie.

Die Leitungen des Kalten Wärmenetzes auf dem Bamberger Campus werden ohne Dämmung verlegt, erläutert Volker Stockinger: Denn während der Heizperiode liegt die Betriebstemperatur unter der Temperatur des umgebenden Erdreichs: „Dann wirkt das Netz wie ein Kollektor, der dem Boden Wärme entzieht.“ Zudem können damit in den Sommermonaten Gebäude auch gekühlt werden.

Das Abwasser sei „einer der schlafenden Riesen der Wärmewende“, betont Stockinger. „An Technik ist alles da, was dafür gebraucht wird.“ Wärmetauscher lassen sich sowohl in neue als auch bestehende Kanäle einbauen. Voraussetzung ist allerdings, dass genug Abwasser fließt: Auf 15 Liter pro Sekunde beziffert ein Ratgeber der Deutschen Stiftung Umwelt den Mindestwert an Tagen ohne Regen, um einen technisch und wirtschaftlich effizienten Betrieb zu gewährleisten.

Für den Einbau des Wärmetauschers fordert das Papier aus dem Jahr 2005 einen Mindestdurchmesser von 80 Zentimetern. Zudem müsse der Kanal leicht zugänglich sein – etwa durch Montage einer Einstiegsluke für Reinigungsarbeiten.

Trotzdem, gibt es noch einiges zu klären. Etwa die Frage, wie viele Wärmetauscher ein Kanalnetz verträgt. Klar ist, dass die Abwassertemperatur, auch wenn man ihr viel Wärme entzieht, schnell wieder steigt durch den Zufluss und das Erdreich. Doch wie lang die Erholungsstrecke zwischen zwei Wärmetauschern sein muss, wisse man nicht, so Stockinger.

Auch Flüsse und Seen enthalten viel Energie. Um damit zu heizen, werden unter anderem Energiespundwände verwendet, die man am Ufer oder in einem Hafenbecken als Befestigung in den Boden treibt und die zusätzlich Wärme aus dem Wasser holen. Spundwand und Wärmepumpe verbindet ein geschlossener Kreislauf, der das Ganze auf die nötige Heiztemperatur bringt. Das lohnt sich selbst im Winter, wenn der Fluss sechs Grad kalt ist und Seewasser acht Grad hat. Dieses Konzept wird gerade vor den Toren von Leipzig realisiert. Die Betreiber rechnen mit einem Jahreswärmebedarf von insgesamt 400 Megawattstunden, den sie decken können.

Rosenheim macht es anders. In der bayerischen Stadt werden drei Großwärmepumpen mit Wasser aus dem benachbarten Mühlbach versorgt, die die daraus gewonnene Energie in das 180 Kilometer lange kommunale Fernwärmenetz einspeisen. Das abgekühlte Wasser wird zurück in den Mühlbach geleitet. Die drei Großwärmepumpen mit jeweils 1,5 Megawatt Heizleistung steuern rund ein Zehntel zum Fernwärmebedarf der Stadt bei.

Die Forschungsstelle für Energiewirtschaft mit Sitz in München hat kürzlich abgeschätzt, wie groß das Potenzial der Wärmegewinnung aus Flüssen in Bayern ist. Ergebnis der Studie: Rund ein Fünftel aller Kommunen, insbesondere entlang der großen Flüsse, könnten damit den Großteil ihres Wärmebedarfs decken.

Nutzt man Flüsse oder Seen als Wärmequelle, greift man allerdings zugleich in die Ökologie ein. Deshalb muss vorher geklärt sein, wie sich das Abkühlen auf die Tier- und Pflanzenwelt des Gewässers auswirkt.

Im Fluss seien bei begrenztem Wärmeentzug kaum negative Folgen zu befürchten, sagt Jessika Gappisch vom Lehrstuhl Wasserbau und Hydraulik der TU Darmstadt: „Da sich das Wasser ständig erneuert und durchmischt, wird der Temperaturhaushalt des Flusses insgesamt kaum gestört.“ Anders ist es in stehenden Gewässern. Dort schichtet sich das Wasser wegen der unterschiedlichen Dichte in Temperaturzonen. Im Sommer wird die Oberfläche von der Sonne erwärmt und dadurch leichter. Der Übergang zum kühlen und schweren Tiefenwasser heißt Sprungschicht, in der die Temperatur stark abfällt. In der tiefen Zone hat das Wasser nur vier Grad. Die Sprungschicht trennt die tiefe Schicht von der Oberfläche – es findet keinerlei Austausch von Sauerstoff oder Nährstoffen statt. Im Herbst kühlt die Oberfläche ab, wird schwerer und sackt nach unten. Es kommt zur sogenannten Herbstzirkulation: Sauerstoffreiches Wasser von oben mischt sich mit dem nährstoffreichen und sauerstoffarmen Tiefenwasser. Im Winter hat die obere Schicht um die null Grad. Die darunterliegende Tiefenschicht ist gleichmäßig vier Grad warm.

Am Ende des Winters kommt es zur Frühjahrszirkulation und die beiden Schichten vermischen sich wieder.

Je nachdem, in welcher Tiefe man das von den Wärmepumpen abgekühlte Wasser einleitet und welche Temperatur es hat, wird die Schichtung im See mehr oder weniger gestört. Das könnte Auswirkungen auf die Pflanzen- und Tierwelt unter Wasser haben. In einer Studie im Auftrag der Innovationsregion Mitteldeutschland heißt es allerdings, dass Temperaturänderungen von weniger als einem Grad unbedenklich seien, sofern das Wasser noch mindestens sechs Milligramm Sauerstoff pro Liter enthält.

Tendenziell entlaste der Wärmeentzug durch die menschlichen Anlagen die Gewässer sogar, meint die Darmstädter Forscherin Jessika Gappisch: „Eine geringe Abkühlung wirkt dem Klimawandel entgegen.“ Tatsächlich haben sich die Flüsse und Seen in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren deutlich erwärmt, was die Lebensbedingungen verschlechtert, schreibt das Umweltbundesamt im Monitoringbericht 2023 zur Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel. Denn je wärmer Wasser wird, desto weniger Sauerstoff löst sich darin.

Demnach kommt Wärmegewinnung aus Flüssen und Seen sowohl der Natur als auch der Zivilisation zugute. Zumal Wasser auf Temperaturänderungen träge reagiert und im Winter, wenn die Häuser geheizt werden müssen, weit wärmer ist als die Luft. Hinzu kommt, dass Wasser eine hohe Energiedichte hat.

Seine spezifische Wärmekapazität – also die Fähigkeit, Energie zu speichern oder abzugeben – beträgt bezogen auf ein Kilo 4,2 Kilojoule pro Grad Erwärmung oder Abkühlung, die von Luft dagegen nur ein Kilojoule. „Deshalb gewinnt eine Wärmepumpe viermal mehr thermische Energie aus einem Kilo Wasser als aus einem Kilo Luft“, erläutert Jessika Gappisch.

Zu berücksichtigen sei zudem der Dichteunterschied der beiden Stoffe, also das Verhältnis von Masse zu Volumen: Während ein Kilogramm Wasser ein Volumen von einem Liter hat, sind es bei der Luft 1000 Liter. Deshalb sind Wasser-Wärmepumpen um ein Vielfaches effizienter als die üblichen Luft-Wärmepumpen, die in Deutschland den Markt beherrschen. Das gilt auch für die Abwasser-Wärmepumpen.

Im Vergleich zur Geothermie hat die Aquathermie noch den Vorteil, dass weitaus weniger Investitionen notwendig sind, denn teure Bohrarbeiten braucht es nicht. Abwärmegewinnung aus Gewässern oder Kanälen haben eine hohe Leistungsdichte bei geringem Flächenbedarf. Anlagen an Flüssen und Seen ließen sich oftmals in bereits bestehende Bauwerke integrieren, schlägt Gappisch vor: „Man kann beispielsweise ehemalige Mühlkanäle oder Standorte der Wasserkraft nutzen, aber auch die Kühlwasserleitungen stillgelegter fossiler Kraftwerke.“ Das minimiere den Eingriff in die Natur und schone Flüsse, Seen und ihre Uferbereiche. Mit der Aquathermie, die sich in Skandinavien, der Schweiz und den Niederlanden bereits etabliert hat, könnte auch die Wärmewende in Deutschland einen kräftigen Schub bekommen. „Man nutzt Wärme, die ohnehin zur Verfügung steht“, meint die Wissenschaftlerin. Und die dazu noch kostenlos ist.