Herrn Rosendahls Gespür für Schnee

Presseschau: ein Beitrag in der Frakfurter Rundschau

08.05.2025 von

Ein Maschinenbauer entdeckt seine Liebe zu Eiskristallen – jetzt leitet er das Lawinenforschungszentrum der TU.

Vielleicht wäre Philipp Rosendahls zukünftiger Arbeitgeber einmal ein großer Autokonzern geworden oder ein Flugzeughersteller. Der Fünfunddreißigjährige hat Maschinenbau an der TU Darmstadt studiert und für seine Doktorarbeit über Bruchmechanik und vor allem Klebverbindungen geforscht. Diese Fugen werden im Autobau gerne zum Schutz der Insassen verwendet, weil sie im Falle eines Aufpralls viel Bewegungsenergie absorbieren. Sicherlich ein Thema, um später in der Industrie zu reüssieren. Doch es kam anders.

Dass aus dem promovierten Maschinenbauer ein Nivologe, ein Schneeforscher, wurde, liegt vor allem an Rosendahls Liebe zum Wintersport. „Das war reines Interesse“, erzählt der gebürtige Berliner. Als Doktorand untersuchte er das mechanische Verhalten besagter Klebeverbindungen und wie darin Risse entstehen. Dabei erkannte der passionierte Skitourengänger, dass sich Klebefugen und Schneeschichten in vielerlei Hinsicht ähneln. „Eine dieser Schichten wird die schwächste sein und als Erstes brechen.“ In den Bergen ist es oftmals der sogenannte Oberflächenreif, eine dünne, fragile Schicht aus feinen Eiskristallen, die von frisch gefallenem Neuschnee überdeckt wird. „Es geht um die gleichen mathematischen und mechanischen Prinzipien wie bei einer Klebverbindung“, sagt der Wissenschaftler.

Bricht eine Eisschicht oder kommt ins Rutschen, kann es in den Schneeregionen gefährlich werden. Weshalb Rosendahl, wenn er seine Bretter für die nächste Bergtour unterschnallt, den wichtigsten Wegbegleiter immer dabei hat: seinen Lawinenrucksack, ausgerüstet mit einer Art Airbag und einem Lawinenverschütteten-Suchgerät, LVS genannt oder kurz Pieps. Damit kann er Opfer eines Schneeabgangs orten oder selbst geortet werden. Lange bevor er selbst zum Lawinenforscher wurde, hat sich der begeisterte Skifahrer intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt, vor Touren stets Wetterlage und Schneeberichte studiert.

In einer von ihm betreuten Studienarbeit befasste sich der Maschinenbauer mit dem Gespür für Schnee daher mit der Frage, wie sich die Erkenntnisse aus der Mechanik zur besseren Lawinenwarnung einsetzen lassen – und landete so 2018 beim International Snow Science Workshop in Innsbruck. Das ist eine internationale Konferenz, die alle zwei Jahre in Europa, den USA oder Kanada stattfindet und an der Schnee- und Lawinenforscher sowie Praktiker der Branche aus der ganzen Welt teilnehmen. „Ich wurde gleich gut aufgenommen, und es gab viel Interesse an einer Zusammenarbeit“, berichtet er.

Rosendahls Thema füllte eine Lücke: „Der Ingenieurs-Aspekt fehlte bisher der Community.“ Es gibt dort viele Forscher aus der Physik, der Meteorologie oder den Geowissenschaften, aber eben keine Maschinenbauer. So bekam auch der Ingenieur neue Impulse. „Ich traf passionierte Outdoor-Menschen, eine kleine, herzliche Forschungsgemeinschaft ohne die sonst übliche wissenschaftliche Konkurrenz.“

Der Darmstädter erhielt Zugang zu Datenbanken, Forschungseinrichtungen und Kollaborationen wie mit dem schweizerischen Lawinenforschungszentrum in Davos. „Die Schneeforschung hat sehr viele Aspekte – von der Hydrologie bis hin zum Klimawandel und der immer aktueller werdenden Frage, was eigentlich passiert, wenn es wärmer wird.“ In Feldversuchen und im Austausch mit den Praktikern erstellte der TU-Wissenschaftler Schneeprofile, erforschte die eisigen Massen Schicht für Schicht.

Nach seiner Promotion im Maschinenbau war für den jungen Forscher klar, dass „ich als Postdoc an der Uni bleiben wollte, was so eigentlich nie geplant war“. In Jens Schneider – damals Leiter des Instituts für Statik und Kon-struktion am Fachbereich Bau- und Umweltingenieurwesen, heute Rektor der Technischen Universität Wien – fand Rosendahl einen Unterstützer.

2020 entstand an der TU Darmstadt das „Center of Snow and Avalanche Research“, das Zentrum für Schnee- und Lawinenforschung, dessen Gruppenleiter Rosendahl ist. Für seine Arbeit fördert ihn die Uni jetzt als „Athene Young Investigator“. Aktuell arbeiten zwei Doktoranden mit ihm zusammen. Bis Ende 2025 werden weitere hinzukommen. „Es laufen viele Forschungsanträge“, stellt er zufrieden fest.

Das Zentrum ist einzigartig. Die Forscher entwickeln Rechenmodelle und erfinden Experimente anhand mathematischer, numerischer Methoden der Bruchmechanik. Das ergänze sich gut mit den Feldversuchen des Lawinenforschungsinstitutes Davos, sagt der TU-Wissenschaftler. So fanden die Darmstädter in einer Studie heraus, dass schon eine einzelne Person den Schnee so belasten kann, dass eine tiefliegende Schicht kollabiert und die Schneedecke abrutscht. Fachleute sprechen von Antirissen. Die grundlegenden bruchmechanischen Eigenschaften, die zu Schneebrettlawinen führen, sind laut Rosendahl noch weitgehend unbekannt, aber entscheidend für die Vorhersage, was Lawinen auslöst. Sein Team entwickelte eine Methodik, mit der die Bruchzähigkeit schwacher Schneeschichten unter kontrollierten Bedingungen im Feld gemessen werden kann.

Mit dem technischen Know-how aus Darmstadt entstehen auch neue Geräte. Etwa ein mobiler Schnee-Tester, den ein TU-Doktorand und ein Masterstudent gemeinsam entworfen haben, um gleichzeitig Druck- und Scherbelastungen von Schneeproben messen zu können. Das Gerät passt in einen Rucksack. „Das ist wichtig, weil der logistische Aufwand, in Schnee- und Bergregionen vorzudringen, immer sehr groß ist“, hebt Rosendahl hervor. Schneeforscher zu sein, ist körperlich zehrend. „Man muss fit sein. Manchmal frage ich mich, warum mache ich das? Aber hinterher ist es einfach toll“, sagt er und lacht. Der Schnee-Experte aus Darmstadt hat einen Traum: Er möchte gerne einmal nördlich des Polarkreises oder im Himalaja forschen.